Die grosse Industrie Belgiens ist auf dem Kohlenreichtum des Landes aufgebaut, der aus den beiden Hauptbecken im Hennegau (Fettkohle) 16 Millionen Tonnen und von Liittich (halbfette und magere Kohlen) 6 Millionen Tonnen entnom- men wird, wahrend sich die Ausbeute des Vorkommens in der Campine, das an die Limburger Kohle von Holland an- schliesst, erst zu entwickeln beginnt. Aus 68 Bergwerken werden etwa 23 Millionen Tonnen Kohlen gefördert, von denen etwa 5 Millionen Tonnen nach Frankreich, wahrend Deutschland und England noch 7 Millionen Tonnen zuführen. Der Krieg hat die Lieferungen deutscher Kohlen nach Belgien nur fiir kurze Zeit unterbrochen. Nachdem der Versand auf dem Wasserwege fiir den Eisenbahnversand liegen keine Angaben vor im August nur 486 Tonnen betragen und im September ganz aufgehört hatte, steilte er sich im October wieder auf 4500 Tonnen, erhöhte sich im November auf 65 700 Tonnen und betrug im Dezember 121 000 Tonnen. In den Monaten AugustDezember 1914 erhielt Belgien auf dem Wasserweg 191 000 Tonnen an rheinisch-westfalischer Kohle, das sind allerdings 1 505000 Tonnen oder rund 87 Prozent weniger als in dem gleichen Zeitraum des Vorjahres. Der Januar brachte gegen den Dezember bei 109 000 Tonnen einen kleinen Rückgang im Bezug, doch wurde im Februar die Dezemberziffer wieder erreicht. Fiir die ersten sieben Kriegsmonate ergibt sich ein Gesamtbezug von 422 000 Ton nen. Sind diese Mengen auch nicht sehr erheblich, so diirften sie doch über den Bedarf der deutschen Heeres- und Zivil- verwaltung in Belgien weit hinausgehen (für den zudem ja auch in gewissem Umfange belgische Kohle zur Verfiigung steht) und damit, namentlich in ihrer Steigerung von Monat zu Monat, als ein erfreuliches Anzeichen für die Wieder- belebung der wirtschaftlichen Tatigkeit des Landes anzu- sprechen sein. Die Kokserzeugung Belgiens betragt 3,2 Millionen Tonnen, die Roheisenerzeugung aus fast aus- schliesslich französischen, weniger aus luxemburgischen Erzen in etwa 4^(1914) Hochöfen 2 Millionen Tonnen und der Roheisenverbrauch (Erzeugung und Ausfuhriiber- schuss) 3 Millionen Tonnen. An Stahl werden 2,5 Millionen Tonnen und 72 600 Tonnen Stahlformguss hergestellt, an Flusseisenerzeugnissen rund 2Millionen Tonnen,an Schweiss- eisenerzeugnissen 335 000 Tonnen. Der Verarbeitung des Eisens widmen sich 25 grössere Stahlwerke, neben vielen anderen Eisenwerken vor allem auch Eisengiessereien und die sechs Waffenfabriken bei Lüttich, neben denen auch die Hausindustrie noch viele Gewehre herstellt (Waffenfabriken 6000, Hausindustrie 15 000 Arbeiter). Dazu kommen Auto- mobilfabriken u. a. m. Der grösste Teil der Eisenerzeugnisse, etwa 70 Prozent, gehen ins Ausland. Eine ausgesprochene Ausfuhrindustrie ist die grosse Zinkindustrie (1911 494 Zinköfen, 198 230 Tonnen, 124 Millionen Franken) und die aufstrebende Bleiindustrie (1914: 44 308 Tonnen, 15,6 Millionen Franken). Die chemische Industrie, die sich auf den Steinkohlenteer stützt, hat sich in Belgien nicht zu entwickeln vermocht, wohl aber die Her- stellung der Schwefelsaure im Anschluss an die Zinkindustrie und unter Verwendung von Pyriten. Die Schwefelsaure wie- derum dient zur Erzeugung von Kalziumsuperphosphaten, deren Kalk zum Teil den Kreidephosphaten aus dem Hen negau und der Umgebung von Lüttich entnommen wird. Dazu kommen Sodasulfat, Sodakorbonat, Ammoniak (Solvay- werke), Gerbstoffe. Bekannt ist die belgische Glasindustrie von Namur und im Hennegau, die neun Zehntel ihrer Erzeugnisse im Werte von etwa 81 Millionen Franken ausfiihrt und ihre Unterneh- mungen auch nach Deutschland übertragen hat. Die Industrie der Steine und Erden bringt neben einer kleineren Menge Steinzeug und Porzellan vor allem feuerfeste Steine, Kunst- steine, Ziegelsteine (Boom), Tonröhren hervor. Die Wollindustrie sitzt hauptsachlich in der Gegend von Verviers, Goé, Pepinster, die Baumwollindustrie hat ihren Mittelpunkt in Gent, ebenso die Leinenspinnerei, wahrend sich die Leinenweberei als vorwiegende Hausindustrie über das Land zerstreut. Schliesslich seien noch erwahnt die Diamantenschlei- fereien von Antwerpen, die Spitzen und Teppiche von Brüs- sel, die Gold- und Silberwaren von Brüssel, Lüttich und Antwerpen, die Strohhüte aus Gheeltal, die Mechelner Kup- ferwaren usw. Lage derArbeiterschaft. Nirgends sind die sozialen Gegensatze grosser wie in Belgien. Ieder fünfte Mensch in Belgien ist Arbeiter oder Arbeiterin, aber jeder zweite Mensch (im ganzen 3,7 Millionen) berufslos. Die Zahl der in Syndikaten zusammengeschlossenen Arbeiter ist nicht sehr gross.Es gab 1911: 82 000 organisierte Sozialdemokraten u.50 000 Arbeiter in christlichen Arbeitervereinen bei 600000 mannlichen Arbeitern. Die Macht der Organisationen ist aber in der vielfach analphabetischen Arbeiterschaft grosser, wie ihre Zahl anzeigt, auch ihre Aufgabe ist bei der engen staat- lichen Arbeiterfürsorge eine andere. So ist es vor allem auch zu erklaren, dass sich die Arbeitslosenversicherung auf die Gewerkschaften stützt und dass sich so grosse Genossen- schaftsbildungen entwickeln konnten, wie der Vooruit des Gewerkschaftsführers Anseele in Gent. Dort wurde im Jahre 1873 die Genossenschaft der Vrij Bakkers gegründet, die den Mitgliedern billiges Brot ver schaffen sollte und deren Vermogen sich auf 150 Franken belief. Heute macht diese, in Vooruit umgetaufte Genossen- schaft, für vier Millionen Geschafte im Jahre, hat 9000 Mit- glieder und allein ihr Vermogen in Liegenschaften betragt 3 Vs Millionen. Immer noch bildet die Brotbeschaffung mit 40 Prozent aller Geschafte die Grundlage des Vooruit, aber inzwischen sind Bierbrauerei, Kohlenlager, Spezereigeschafte, Zeitungsdruckerei, Konfektionsladen selbst Medikamenten- vermittelung hinzugekommen, ja sogar eine sehr gut rende rende Genossenschaftsweberei. Anseele hat hier aus zweifel- haften Anfangen ein gewaltiges Werk geschaffen, er ist auch im Krieg auf seinem Posten als Finanzschöffe der Stadt Gent geblieben und seiner Anregung ist jetzt der Ausbau eines neuen Docks im Genter Hafen zu danken, wo Arbeitslose (im ganzen 7000 Mann) Beschaftigung finden. Ganz fehlt es in Belgien nicht an sozialer Fürsorge, doch bleibt es dem Arbeiter meist überlassen, sich freiwillig selbst bei einem der staatlich unterstiitzten Hilfsvereine zu ver- sichern, die die verschiedensten Versicherungsarten bunt nebeneinander betreiben. Eine Ausnahme macht nur die Altersversicherung der Bergleute. Diese ist Zwangsversiche- rung. Der Krankenversicherung gehören von den rund 2 Millionen Arbeitern etwa 490 000 in 3500 Hilfsvereinen an. Beitrag auf den Kopf 8 Mark (in Deutschland 30,7 Mark). Invalidenversichert sind 285 000 Arbeiter. In der Altersver sicherung waren 1912 81 000 Rentenempfanger vorhanden. Gegen Unfali können sich Arbeiter und Betriebsbeanrte, die bis 1920 Mark Jahresverdienst haben, versichern. Die Arbeitslöhne der belgischen Arbeiter sind niedriger als die der deutschen Arbeiter. Kuczynsky gibi den Durch- schnittsstundenlohn eines Maschinenschlossers von 1890 1900 in Lüttich mit 29,8, in Berlin mit 44,7, in Paris mit 47,9, in Grossbritannien mit 67,60 Pfg. an. Ich möchte Schlüsse aus solchen Zahlen zunachst ablehnen und es als unsicher bezeichnen, ob die Wettbewerbfahigkeit Belgiens auf niedri- gen Löhnen beruht. Es kommt nicht nur auf den Lohn, son- dern auf die mit dem Lohn erzielte Arbeitsleistung an. Und. da zeigt sich z. B., dass zwar der belgische Kohlenberg- arbeiter jahrlich nur rund 1000 Mark verdient, wahrend der gieiche Arbeiter im Ruhrbezirk einen Lohn von 1446 Mark erhalt. Dafür betragt aber auch die Durchschnittsförderung auf einen Arbeiter im Ruhrbezirk im Jahre 267 Tonnen, in Belgien 160 Tonnen. (Schluss folgt.)

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Landsturm | 1915 | | pagina 2