Nr. 19
1. Februar 1916
GLOCKENSPIELE.
Ohn' Weinen viel und Klagen.
AALST (Belgien).
Es geht eine Trommel bei Nacht und Tag
Ueber deutsche Winterheide,
Sie ruft, was Waffen zu tragen vermag,
Sie ruft mit dumpfem gewaltigen Schlag
Die Herzen zu Not und Leide.
Sie rief ein Herz, das von Liedern schwoll
Und wollte singen und sagen,
Das nun sein Herzblut, so iibervoll,
So jungfür die Heimat vergiessen soil,
Ohn' Weinen viel und Klagen.
Wilhelm Wolter,
Ueber den Hauschen der Beguinen singt ein sil-
bernes Glöckchen durch die Abendstille. Leise verhallt sein
Gelaute. Aus dem Buschwerk des nahen Schlosses flötet
noch die unermüdliche Drossel, aber jetzt schweigt sie, urn
den innigen Choralen der Nachtigall zu lauschen. Und nun
ist alles still. Da, plötzlich, beginnt das Glockenspiel seine
Weise. Ein leichter Ostwind treibt die Tone mir zu, sie
wandern auf dem goldigschimmernden Wasser des Flusses
an mein Ohr. 1st es Wirklichkeit oder Betrug der Sinne
Nun scheint es mir, als wenn die Musik von oben kommt,
aus dem Himmel herabströmt wie ein Silberregen von
Tonen, wie reiner Engelsgesang, und dann wieder, als ob
ein Chor von Elfen und Waldgeistern unter den Baumen im
blinkenden Gerinnsel der Lichtfluten des wachsenden Mon-
des eine wunderbare Symphonie anhebt. Ja, ihr Glocken,
wohl mögt ihr C ae c i 1 i a spielen. Diesen Wassern
entlang muss sie gekommen sein, mit Blumen im Haar und
Blumen weekend mit dem leichten Schritt ihrer Fiisse. Und
nun Wie bezaubemd klingt 't Roosje uit de Dalen"
Keine Madchenstimme kann es mit innigerem Gefühl singen.
Der Kehrreim klingt wie eine Liebkosung, die in Tranen
endigt, wie wenn Glück und Kummer urn den Vorrang
streiten... Ich schreite langsam hinein in die Stadt. Die
Kinder haben ihr Spiel eingestellt, die Alten sitzen vor der
Tür, und man kann es ihnen ansehen, dass die Jugendzeit an
ihrem Geiste vorbeizieht. Ein tiefer Seufzer entsteigt wohl
ihrer Brust und manches Auge traumt in wehmütiger Erinne-
rung. Und ist der letzte Glockenton in leisem Nachklang
erstorben, dann sehen sie einander an, und sie fühlen, dass
sie besser und reiner geworden sind, denn durch ihre Seelen
flossen die klaren Ströme edler Kunst...
So erzahlen vlamische Dichter begeistert von dem Spiel
der Glocken auf Flanderns Türmen. Fast jede Stadt hat
einen Beiaard wie die gesamte Einrichtung eines Glok-
kenspiels in vlamischer Sprache genannt wird. Ueber 60
sollen sich in Belgien befinden, weitaus die meisten im west-
lichen Teil des Landes, selbst kleine Dörfer wie Mespelaere,
unweits Aalsts, haben die ziemlich hohen Kosten dafür nicht
gescheut. Von den Kirchtürmen, aber auch oft von den alten
Belfrieden herab lassen sie ihre Stimmen erschallen. Am
berühmtesten sind die Spiele auf dem Belfried in Brugge
und dem machtigen Turm der St. Romualdskirche in
Mecheln. Brüssel aber ist ohne Glockenspiel. Einige Jahre
hing eins versuchsweise im Turm des alten Brothauses
(maison du roi) am herrlichen Marktplatz (grande place),
aber die Stadtvertretung verweigerte die Kosten, und so
wurde es wieder entfernt. Es passt auch nicht recht hinein in
den Larm und die Unrast der Grosstadt, es kann nur in der
Stille seine volle Wirkung ausüben.
Meine Leser wollen mich bei einem Besuch des
Beiaard der sich auf dem zierlichen Belfried in Aalst
befindet, begleiten. Wir steigen die schmale steile Wendel-
treppe im Turm hinauf, höher und höher. Sparlich fallt das
Licht durch schmale Mauerscharten. Nun eine Tür. Hinter
ihr ein gleichmassiges dumpfes Pochen, das Herz des
Turmes, das Uhrwerk. Aber es treibt nicht nur die Zeiger
derUhren zu unermüdlichem Gang vorwarts, es lost auch
alle 7 '2 Minuten das mechanische Spiel der Glocken aus.
Diese Mechanik befindet sich ein Stockwerk höher, und
wenn wir in das Stübchen hineintreten, so sehen wir nichts
als eine grosse Walze, die mit hunderten von kleinen Eisen-
bolzen bespickt ist. Es ist kein anderer Apparat als der, den
wir von den kleinen Spieldosen daheim kennen, wo die
feinen Stacheln der Walze leichte Metallzungen heben und
erklingen lassen. Hier setzen die eisernen Bolzen einen
Mechanismus in Bew'egung, der die Hammer, die an den
Glocken hoch oben im Turme ruhen, anschlagen lasst. Die
Trommel, die über 60000 Löcher hat, ist mit etwa 12-1500
Bolzen besetzt. Es ist eine tagelange, mühevolle Arbeit,
neue Melodien einzustellen, darum wird auch nicht haufig
gewechselt. In Aalst wurde alle 1-2 Jahre das Programm
geandert. Jetzt in der Kriegsnot hat man natürlich auch dazu
keine Lust, und so erklingen denn heute noch dieselben
Melodien wie vor dem Krieg Zur vollen Stunde ein Stück
aus A r m i d e von Gluck, ein Viertel nach einige Takte
der „Glocken von Corneville" von Planquette,
um Uhr ein Stück aus Rigoletto" von Verdi, ein
Viertel vor Voll einige Takte vom „Lied der Vlamin
gen" von P. Benoit. In der Mitte der Viertelstunden schla-
gen die Glocken ausserdem noch ganz kurz ein paar
Töne an.
Schriftltg. Geir. W. NEUHAUS, i. Comp. Ldst. Batl. Hersteld z. Zt. Aalst (Belgien)
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fgefallen in der Champagne,).