Die Notglocke von Gent.
Im Grafenschloss zu Gent.
Nachbarn, dem fünfstöckigen Gilaehaus der Kornmesser,
das aus dem Jahre 1698 stammt, nicht zur Geltung kommen.
Dann folgt das Zunfthaus der freien Schiffer, 1531
erbaut, mit seinen reichen spatgotischen Formen. Es ist eins
der berühmtesten und schönsten gotischen Hauser in Belgien.
Wie ganz anders sprechen diese Bauten zu uns als die
Zunfthauser in Briissel am Marktplatz. Dort Schlankheit,
ein Zurückdrangen selbstandiger Wirkung zu Gunsten der
Gesamtwirkung des Platzes, Eleganz und zierliche Vergol-
dung, kurzum eine fast damenhafte Erscheinung hier ein
volles Sich-Aus-Leben der Formen, behagliche Breite, kraft-
volle Mannlichkeit. Wie ungleich deutscher wirken diese
Bauten auf uns als die in dem Salon, dem Boudoir der effe-
minierten, französierten Hauptstadt Belgiens, wie man
treffend Briissels Marktplatz genannt hat, dessen reizvolle
Schönheit man darum nicht zu verkennen braucht.
Das sind die drei baulich wertvollsten Hauser am Gras-
lei, doch auch die anderen der malerischen Hauserreihe
sind der Betrachtung wert, und das neu gebaute grosse Post-
gebaude fügt sich nicht storend in das Gesamtbild hinein.
Ueber den Hausern aber steigen Gents Türme auf.
Hinter uns zur Rechten der quadratische Turm-Stumpf
St. Michaels und vor uns der wuchtig-trotzige Turm
St. Nikolaus, dann der Belfried mit dem goldglanzenden
Drachen an der Spitze und zum Schluss, machtig, eindrucks-
voll, Sankt Bavo in seiner schlichten Gotik. Das ist ein
solcher Triumph freier Stadtherrlichkeit, wie man ihn sonst
nirgends erleben kann, diese Folge und Steigerung der vier
Tiirme, die hier für Gott und Gent zeugen und trotzen. Man
1 glaubt und man weiss, dass eine Stadt nie vergehen konnte,
durch deren Herz diese gottgeweihte Vierzahl ragt
Silberne Moven streichen über das Wasser, das im
Schein der Sonne glitzert und funkelt. Sie umkreisen die
Zinnen des altes Grafenschlosses, die zu unserer Linken, die
Dacher iiberragen.
Nur schwer trennen wir uns von dem Orte. Wer aber
nicht nur mit den Augen, sondern auch mit der Seele ge-
schaut hat, dem muss das Herz höher schlagen über soviel
Schönheit, die schliesslich doch deutschen Geistes ist.
s
Kriegsballade.
In Flandern geht eine Stimme urn,
die jeder im Lande kennt,
einer erzenen Glocke tiefes Gebrumm
iin Kirchenturme von Gent.
Der sie gegossen, er taufte sie nicht,
und namenlos liess er sie weih'n.
Wenn je ihr wuchtender Klöppel spricht,
dann gellt durch ganz Flandern ihr Schrei'n.
Wenn Feuer und Hunger das Land verheert'
und Krieg durch die Gaue schrie,
rief hell die Glocke und unversehrt
Christ Kyrie Hilf uns, Marie
Die Notglocke lautetgerechtes Gericht,
die Nachtglocke betet uns frei,
so sagen die Flandern, und wenn sie spricht,
dann ist unser Leiden vorbei.
Und wenn an den Mantel der Klöppel sprang
injedem Jahrhundert einmal,
dann erfüllte mit Jubel der eherne Klang
das ganze flandrische Tal
In höchsten Aengsten, in furchtbarster Stund'
erwachte die Melodie
aus ihrem bronzenen, stummen Mand
Christ Kyrie! Hilf uns, Marie
Ein Weltkrieg entflammte, ganz Belgien brennt,
die Dörfer flackern blutrot,
du alte, heilige Glocke von Gent,
so bete für Flanderns Not.
Der schwere, wuchtende Hammer hub an
und pochte an heiliges Erz,
wie Wasserfluten sein Schwingen rann
und schlug wie ein flandrisches Herz.
Ja, Flandern bleibt frei, wenn die Glocke klingt,
die Glocke von Gent log noch nie.
Ein Ton Und der bronzene Mantel zerspringt.
Christ Kyrie Hilf uns, Marie Hellmuth Unger.
Eine Wanderung durch 's Gravensteen te Gent,
der 4. Komp. des Landsturmbataillons Hersfeld in dankbarer
Erinnerung gewidmet
votn Gefr. Helmbold-Niederzwehren bei Cassel.
Der Efeu schlingt sich urn das tausendjahrige Gemauer
der Grafenburg. Mit heiserem Schrei zieht die Möwe um
ihre Zinnen und taucht hinab in die Wasser der Leie. Droben
flattert die deutsche Fahne. Unten vor dem hohen Torbogen
steht die feldgraue Schildwacht mit blitzender Wehr, ein
bartiger Landsturmmann, hoch und stark wie ein Waldbaum
seiner Thüringer Heimatberge. Nicht jedem ist der Eintritt
in die Burg der flandrischen Grafen gestattet, zumal jetzt im
Kriege, wo einige ihrer Raurne besonderen Zwecken dienen.
Wer aber einen Erlaubnisschein von der Kommandantur
vorzuzeigen vermag, darf einkehren in diese altehrwiirdigen
Hallen. Der schwere, schmiedeeiserne Pfortenring fallt
nieder. Der Landstürmer hat die Wache im Burghofe durch
ein Klingelzeichen verstandigt. Tritte hallen durch den
langen Torgang der Vorburg. Vor dem Wachthauschen steht
der Wachthabende in strammer Haltung und empfangt den
Besuch. Ein Mann von der Wache ist zur Begleitung bereit.
Wer sonst einea geschichtlich denkwiirdigen Ort besucht, ist
durch Reisebücher wohl vorbereitet. Aber es ist Krieg. Viele
Besucher kommen aus dem Schiitzengraben und haben für
Gent nur einige Stunden übrig. Wie dankbar ist da mancher
dèm Landstürmer, der ihm nicht bloss Begleiter, sondern
auch Führer sein kann. Und sie bilden sich alle zu Führern
heran, die Landstürmer der Grafenschlosswache, jeder
freilich nach seiner Kunst und Gaben
Wir wandern über den Burghof an dem Wachthause
vorbei, in dem vor dem Kriege Eintritts- und Ansichtskarten
verkauft wurden, und wenden uns der Burg zu. Wir erken
nen ihre drei Hauptteiledie Vorburg, durch die unser
Besuch gekommen, die Hauptburg (Donjon, Meeste Toren)
und links daneben das Grafenhaus. Die Ringmauer, die den
Burghof umschliesst, bildet eine Ellipse, deren Durchmesser
65 und 50 m betragen. Sie'wird durch 24 halbrunde Türme
I verteidigt, von denen zwei mit einem Dach geschützt sind.
Die übrigen bekommen durch ein Bohlenwerk, das von
Tragsteinen gehalten wird, noch ein Stockwerk, das gleich
dem untern Raume zur Verteidigung geeignet ist. Diese
Einrichtung nebst den Schiessscharten, Schutzbrettern vor
den Mauerlücken fordert die aufmerksamen Besucher zum
Vergleich mit den Unterstanden, Schutzschilden und Banken
in den Schützengraben heraus. Die Wirkung der heutigen
schweren Geschosse auf das Mauerwerk wird scherzweise
erwogen. Die beiden gedeckten Türme im Norden und Süd-
westen des Wehrganges dienten den Burgmannen zum
Aufenthalt. In dem Boden jedes Turmes fallen uns kreisrunde
Steinplatten auf, die an Ringen hochgehaben werden können
I und Oeffnungen verschliessen, durch welche die Belagerten
siedende Flüssigkeiten und Steine auf die Feinde warfen, die