Bilder aus dem Leben in der Etappe.
quadratischen Turin. Und nun reiht sich nach links ein
ehrwürdiger Bau an den andern an das neue Postgebaude
mit seinen gotischen Türmen die St.-Nikolas-Kirche, der
Belfried mit dem goldenen Drachen und den blinkenden
Spitzen, die stattliche Kathedrale. Weiter im Süden steigt
aus dem Nebel der Kuppelbau von St.-Peter. 1m Osten
griissen iiber den Freitagsmarkt hinweg die Türme der
Jakobskirche. Dahinter erhebt sich wie eine Anklage das
spitze Giebeldach des Refektoriums der einstigen St.-Bavo-
Abtei. Karl V. gilt die Anklage, der aus dem Kloster eine
Ruine machte, die Kirche niederlegte und in dem neuerbau-
ten spanischen Kastell den Genter Biirgern eine Zwingburg
gab. Unser Besuch auf der Plattform drangt zur Eile und
fragt, was in nachster Nahe noch sehenswert. Wir weisen
auf den Antonius-Kai hin, wo das Geburtshaus Karls V. steht,
auf den zweischiffigen Kirchenbau unweit des Grafenschlos-
ses, wo das Museum für Altertümer untergebracht ist, die
Rabottürme und die alten Beguinenhöfe im Westen der
Stadt. Wir steigen die Treppen hinab. Unten vor dem Tor-
gange der Vorburg werfen wir noch einen Blick in den
Folterkeller, wo der Folterbrunnen steht und Gebeine von
ausgegrabenen Opfern zu sehen sind. Wir bewundern die
sieben Saulen und das stattliche Deckengewölbe. Ehe man
hier folterte, stampften und wieherten hier die Rosse des
graflichen Stalles. Dankbar verlasst uns unser Besuch.
Redende Steine sind die Mauern des flandrischen Grafen-
schlosses.
7. V o m Passbüro.
Die Geschaftsraume der Passamter in der Etappe wer
den wahrend der Dienststunden niemals leer. Meistens kann
die andrangende Menge nicht abgefertigt werden, und so
mussen viele am anderen Tage wieder kommen und viel-
leicht auch dann noch ein paar Stunden auf ihre Abfertigung
warten.
Aber was tut's Wenn man nur einen guten Reiseschein
erhalt, will man sich gern dieser Geduldsprobe unterziehen.
Die Reiselust liegt nun einmal im belgischen Blute und
wurde durch das engmaschige Voll- und Kleinbahnnetz
bestens begünstigt. Nun aber kann man ohne „dentsche
Genehmigung. die durch die Ansstellung eines ^Reisescheines
gegeben wird, sich nicht von der Stelle bewegen, wenn man
nicht gerade zu Fuss (das lieben die Belgier durchaus nicht
gehen will. Und auch dann noch bedarf man des Scheines,
wenn man das Etappengebiet verlasst.
Ja ein guter Reiseschein Ein Reiseschein, der möglichst
von Herbesthal bis an die Front am Yserkanal und von
Luxemburg bis an die hollandische Grenze reicht, der einen
ganzen Mpnat Giiltigkeit hat und der die Benutzung aller
möglichen Verkehrsmitteln, vor allem des Fahrrades, gestat-
tet, das ist das Ideal eines jeden belgischen Reisenden und
dafür würde man gern ein erklekliches Sümmchen bezahlen.
Leider aber haben die Deutschen, nach Ansicht der
Belgier, so wenig Verstandnis für diese Wünsche. Für das
Operationsgebiet und das Grenzgebiet gegen Holland
machen sie ganz erhebliche Schwierigkeiten, so dass man
am besten darauf verzichtet, wollen auch immer ganz
genau wissen, aus welchem Grunde man verreisen muss.
Die Zahl der Orte, die man besuchen will und muss, ist
ihnen auch immer zu gross und das Fahren mit dem „Velo"
scheint bei ihnen in besonderem Misskredit zu stehen.
Auf den Passamtem streiten eben zwei Richtungen mit-
einanderdie belgische, die möglichst weit und zwanglos
im Lande herumreisen will und die deutsche, die sagt lm
Interesse der Sicherheit unserer Heere können wir das nicht
gestatten und geben nur eine Reiseerlaubnis in ganz drin
genden Fallen und wenn der Antragsteller durch die Reisen
erwiesenermassen seinem Broterwerb nachgeht.
Auch so bleibt noch mehr als genug übrig.Die Gewerbe-
freiheit in Belgien hat zur Folge gehabt, dass jeder neben
seinem eigentlichen Beruf noch irgendeinen Handel treibt,
der natürlich auch Reisen erforderlich macht. Oft hat auch
die Frau ihren Sonderberuf und ist überhaupt in geschaft-
licher Beziehung recht tatig. Dazu kommt ein ausgebreiteter
Kleinhandel im Umherziehen. Hausierer gibt es überreichlich.
Lange Fahrten zwischen der Wohn- und Arbeitsstatte des
Arbeiters sind in Belgien weit haufiger als anderswo. Nun
sind sie allerdings durch das Stillliegen der meisten Fabriken
nicht mehr nötig, aber ganz haben sie noch nicht aufgehört.
An Stelle einer blossen Aufzahlung der betr. Paragra-
phen mogen hier einige typische Beispiele aus der Passbüro-
arbeit die Bestimmungen klarlegen, die dem Reiseverkehr
zu Grunde liegen.
1. Ein Arbeiter. Er will auf einen Monat nach Brüssel,
urn dort Arbeit zu suchen. Er kann also eine Bescheinigung,
dass er in einer bestimmten Fabrik arbeitet, noch nicht
beibringen. So erhalt er nur eine Reiseerlaubnis für ein
paar Tage, die es ihm ermöglicht, sich in Brüssel nach
Arbeit umzusehen und sich eine derartige Bescheinigung zu
besorgen. Der Reiseschein kostet 1 M. Aber wenn er
zurückkommt und die Arbeitsgelegenheit ordnungsgemass
nachweisen kann, wird sein Pass auf einen Monat ver-
langert.
2. Eine junge Spitzen-Verkauferin. Mit gewinnendstem
Lacheln erklart sie, dass sie innerhalb des Etappengebiets
nach einem Dutzend Ortschaften reisen möchte, die sie auf
einem Zettel geschrieben hat. Aber erbarmungslos streicht
ihr der Stift mehr als die Halfte. Reisen, die durch das ganze
Gebiet führen, sollen nicht zugelassen werden, und so muss
sie sich mit einem kleineren Bezirk begnügen. Das kostet
- für einen Monat 3,20 M. (4 Fr.). Noch erhebt sich eine kleine
Debatte über den Preis. Andere haben einen solchen Pass
für 0,40 M. erhalten. Aber sie hat übersehen, dass das Arbei-
terinnen waren, wahrend sie nach dem von dem Bürger-
meister ihres Ortes ausgestellten Personalausweis klar und
deutlich als Handlerin bezeichnet ist. Da ist also nichts zu
wóllen.
3. In einem ganz verstandlichen Deutsch (gut Deutsch
spricht nur sehr selten jemand) ersucht ein Hopfenhandler
urn einen Schein nach Brüssel, Antwerpen, Charleroi, Gent,
Kortryk, St Nikolas, Brügge und noch einigen Stadten mehr.
Die drei ersten Orte, die im Gouvernement liegen, können
ihm anstandslos gegeben werden. Doch genügt hier, dass
Brüssel angegeben wird, von dort aus kann er alle Orte des
Gouvernements ohne besondere Erlaubnis erreichen. Aber in
der Etappe muss wieder gestrichen werden, und Brügge
liegt gar im Operationsgebiet. Das kann er nur bekommen,
wenn er die ausserste Dringlichkeit seiner Reise nachweist.
Dann wird ein besonderer Antrag urn Genehmigung der
Reise an das betreffende militarische Oberkommando ge-
stellt und eist, wenn dieses seine Genehmigung erteilt, ein
Reiseschein ausgefertigt. Unser Mann weiss das auch sicher,
aber man probierts.und dieses hartnackige Immer-Wieder-
Probieren ist einë~besondere Spezialitat der Belgier. So
ërhaff ëraënn einen Schein für das ganze Gouvernement und
für ein paar naher zusammenliegende Orte der Etappe,
bezahlt 9,20 M. 12 Fr. und ist ganz befriedigt.
4. Eine elegante Dame möchte gern nach Brüssel, urn
die dortigen Familien-Mitglieder zu besuchen. Passé für
Besuchszwecke gibt es nicht behauptet der Schreiber, an
den sie sich gewandt hat.Sie besinnt sich keinen Augenblick.