Alliierten zu gestatten, sich zu sammeln, um die Feinde
iiber den Rhein zu jagen. Zu der angeblich feindlichen
Haltung der Bevölkerung des Elsass schüttelte man
unglaubig den Kopf.
Massnahmen zur V e r t e i d i gung der offenen
Hauptstadt erhöhten die Zuversicht der Biirger-
schaft, die sich eine geradezu kindliche Vorstellung von
den Erf ordernissen des Krieges machte, denn die Ver-
teidigungswerke waren so unvollkommen und wertlos
wie nur möglich, dennoch eriiillten sie ihren Zweck,
indem sie die allgemeine Stimmung hoben. Ausserhalb
der Stadt bis nach Tervueren wurden Schiitzengraben
ausgehoben und aus Sandsacken Schutzwalle errichtet,
selbst an Drahthindernissen fehlte es nicht. Aber alle
diese Einrichtungen waren so primitiv und unzurei-
chend, dass man den Eindruck hatte, sie seien von den
militarischen Behörden nur geduldet worden, um die
Garde-Civique zu beschaftigen. Sogar am Eingang des
Bois de la Cambre, am Ende der Avenue Louise wur
den solche scherzhafte Graben angelegt, hinter denen
sich dann die Mannschaften der Garde-Civique zusam-
men mit Pfadfindern photographieren liessen. Uie
Ankunft von 800 Mann Linientruppen, die auf aben-
teuerliche Art dem deutschen Einschiiessungsring von
Liittich entschlüpft sein sollten und auf weiten Umwe
gen nach hier gelangt waren, wurden als wertvolle
Starkung der Verteidigung gefeiert.
Aber zwischen den Siegesnachrichten mehrten sich
gerade in den am lautesten schreienden Zeitungen die
weissen Stellen, welche die Tatigkeit der Zensur erken
nen liessen. Am ig. erklarte der Etatmajor Général,
dass keine Mitteilungen an die Presse mehr ausgegeben
wurden. Der Biirgermeister Max ordnete die Abliefe-
rung aller in privaten Handen befmdlichen Waffen an
und ermahnte in auffallig gedruckten Aufrufen die Be
völkerung immer wieder, sich streng jeder feindlichen
Handlung gegenüber den deutschen Truppen zu ent
halten und die Erlasse der militarischen Behörden zu
befolgen. Die Proklamation des Bürgermei-
sters Max vom 19. August, welche besagte,
dass trotz des heldenhaften von den alliierten Armeen
unterstützten Widerstandes der belgischen Truppen
mit dem Einzug dei Deutschen in Brussel zu rechnen
sei, in der er versicherte, dass die kommunalen Behör
den auf ihren Posten ausharren würden und der Be
völkerung die Befolgung der Kriegsgesetze ans Herz
legte, ihr gleichzeitig mitteilend, dass Niemand gezwun-
een werden könne, dem Feinde Mitteilungen über mili-
tarische Dinge zu machen, öfinete endlich den Men-
schen die Augen, wirkte geradezu niederschmetternd.
Wieder drangten sich die Reisenden an den Bahnhöfen,
um die Stadt Hals über Kopfzu verlassen.
Aber selbst in dieser Stunde sprachen die Zeitun
gen noch von der glanzenden Lage des belgischen
Heeres und seiner Verteidiger, ja es ist wohl möglich,
dass einzelne dieser siegverkiindenden Berichte sich
noch unter der Presse befanden, als die Deutschen
schon in die Stadt einrückten. Noch am Abend des 19.
bis spiitin die Nacht hinein, waren Zivilgarden mit
der Arbeit an ihren Schützengraben beschaftigt, wur -
den allerhand Wagen über die Strassen geworfen oder
auch nur ineinander geschoben, um Barrikaden her-
zustellen. Leere Flaschen wurden aus den Hausern
geholt, zerschlagen und als Hindernis auf einige Ein
gangsstrassen gestreut. Um Mitternacht erhielt die
Besatzung den Befehl, sich zurückzuziehen.und es soil
dem grössten Teile gelungen sein, Antwerpen zu
erreichen.
Der Bürger meister war den deutschen
Truppen mit einer weissen Fahne entgegen ge-
gangen. Er unterhandelte mit dem Führer und erhielt
die Zusicherung, dass der Bevölkerung, falls sie keine
feindliche Handlung unternahme, kein Leid geschehen
werde. Alle bis dahin in Brüssel erscheinenden Zeitun
gen hatten mit diesem Tage ihr Erscheinen eingestellt,
die Redakteure flohen nach dem Auslande, wo seitdem
einige der Blatter erscheinen. Die Stadt war nach dem
Einrücken der Deutschen wie ausgestorben. Alle nach
der Strasse gehenden Fensterladen blieben geschlos-
sen, einzelne haben sich heute noch nicht wieder
geöffnet. Man sah kaum einen Menschen auf der Strasse,
kein Fuhrwerk, es herrschte eine unheimliche Stille.
Am Morgen des 20. August habe ich d i e
ersten Feldgrauen in meinem Leben gesehen,
eine, von einem Ofhzier geiiihrte Husarenpatrouille,die
sich von einem Brüsseler Schutzmann den Weg zeigen
liess und, von einer neugierigen, scheinbar gar nicht
feindlichen Menge bestaunt, langsam, fast gemütlicn in
das Bois de la Cambre einbog, um dann plötzlic.h eine
schnellere Gangart einzuschlagen und bald den Blieken
zu entschwinden. Die wenigen von Schweiss und
Staub bedeckten Krieger, die langen Lanzen mit
schwarzweissen Fahnchen kampfbereit in der festge-
schlossenen Faust haben auf mich einen tiefen, unver-
gesslichen Eindruck gemacht. Im Laufe des langen
Krieges habe ich wohl Grösseres und Wichtigeres
erlebt, aber wie dem auch sei, vor meiner Seele steht
der Anblick dieser kleinen Schar unverwischlich als
das grösste Erleben der grossen Zeit. Gewiss, Brüssel
ist nicht belagert worden und dennoch, es war eine
schwere Zeit, die in ihren Tiefen zu schildern ich nicht
vermag, die man fühlt mit menschlichem Verstehn, die
man erlebt mit warmem, oft bangem Herzschlag, aber
die man nicht mit der zum Seziermesser werdenden
Feder zergliedern kann. Dabei die tagliche Gewissheit
von dem wie die Brandung eines unendlichen Ozeans
sich unaufhaltsam der Stadt nahernden deutschen
Heere.
Nun war es da, wirklich da. Unwillkürlich wartete
ich aut die ungezahlten Tausende von Reitern, die auf
allen Wegen eindringend den ersten folgen würden.
Ich wartete zunachst vergeblich. Erst am N achmit-
t a g bekam ich eine grössere Abteilung Reiter
und Radfahrer, meist Offiziere, zu Gesicht. und am
Abend marschierte Infanterie durch den Boulevard
Militaire, machte dort fiir einige Zeit halt, steilte an
den Strassenübergangen Wachen aus und biwakierte
auf dem Terrain der Weltausstellung von 1910, neben
dem Bois de la Cambre. Die Soldaten hatten, wie sie
erzahlten, einen Marsch von 5o Kilometer am Tage
ihres Eintreffens gemacht, sie wurden von den Anwoh-
nern nicht unfreundlich empfangen. Die Bürger brach
ten den Soldaten mit Butter oder Muss betrichenes
Brot, Wasser, Bier und andere Erfrischungen, sogar
Zigarren und Zigaretten, beide Teile schienen sich
unter einander gut verstandigen zu können. Von da an
ergoss sich für Tage und Wochen ein schier nicht-
endenwollender Strom feldgrauer Sol
daten aller Wafïengattungen durch die Stadt.
Wer sah wohl jemals so viele Krieger beisammen
wie wir in jenen Tagen, ein nie gesehenes, gewaltiges,
über alle Begriffe grossartiges Schauspiel. Mit den aus