Nur Landsturm
tausendenvon Kehlen sich brausend und sieghaft zum
Himmel emporschwingenden vaterlandischen Gesangen
mischten sich Trompeten- und Trommelklange, ver-
einigte sich das Rollen und Poltern der Geschütze und
Munitionswagen, das klingende Aufschlagen,der Pfer-
dehule auf das Pflaster zu einer Musik von so gewal-
tigen, iiberirdischen, alle Sinnne in ihren Bann schla-
genden Akkorden, wie sie nie ein Komponist auch nur
ahnte, wie sie eines Sterblichen Ohr vordem noch nicht
vernahm. Oft hab ich am Wegrand gestanden und ge-
schaut, geschaut und hatte in stiller Andacht den Hut
abnehmen mögen vor diesen Mannern, die Familie und
Heimat verlassen hatten und um der Grosse ihres Va-
terlandes willen singend in Kampf und Tod zogen
Am Rathaus zu Brüssel, in dem sich zunachst die
deutsche Militarbehörde eingerichtet hatte,war diebel-
gische Fahne niedergegangen, die deutsche auf gezogen
worden. Das alte Belgien mit der Not seiner Arbeiter,
dem von der Regierung behüteten Wohlleben der Be-
mittelten, mit all seinen Annehmlichkeiten, die aus
Sorglosigkeit und Nachlassigkeit sich ergeben, ist auf
immer dahin Jedoch schon zieht eine neue, bessere
Zeit herauf, sie wird Arbeit und Mühsal bringen, aber
das belgische Volk nicht nur vor dem Niedergange be-
wahren.sondern es vielmehr auf von lhm bis dahin nicht
gekannte Höhen führen. Und diese Zukunft werden
lhm nicht seine Bundgenossen von Heute bringen, sie
wird ihm von dem Lande bereitet, das es mit dem
Schwerte bekampft und dem gegeniiber ihm jede La-
sterung erlaubt schien.
Man könnte sich darüber argern Wenn man in die
Heimat kommt, da schauen sie einem auf die Achselklap-
pen, und wenn sie dann das blaue nummerlose Ding, was
unsere Schultern ziert, sehen,dann murmeln sie lauter oder
leiser, mindestens aber denkt es jeder Ach, nur Land
sturm
Es ist um aus der Haut zu fahren, da ist man nun seit
tnehr als 1 '/s -Tabren in Belgien,hat seine verdammte Pflicht
uiid Schuldigkeit getan und muss sich nun noch fast in der
Heimat entschuldigen, dass man noch leidlich gut aussieht,
keine Franzosen, Belgier oder Englander umgebracht hat,
ja, dass man überhaupt noch lebt.
Verehrtester, verzeihen Sie gütigst, dass ich sozu-
sagen für den Landsturm pradestiniert war, denn sehen
Sie, ich bin leider zu friih geboren, um der Reserve oder
der Landwehr angehören zu können. Ich kann aber wirk-
lich nichts dazu. So möchte man oft sagen. Und wenn du
es sagst, so siehst du doch noch in deines Nachsten Auge
ein heimliehes Zucken, das etwa besagen will: Na ja, das
stimmt ja bei dir, du hast deine 43 Jahre auf dem Puckel.
Aber wieviel anderes driickt sich beim Landsturm herum.
Und dabei denkt man an die Landsturm-Batailione, die
im Ilerbst 1914 die Heimat verliessen und vergisst, wie an
ders sie geworden sind. Gesiebt sind sie und wieder gesiebt.
Was felddienstfahig war, hat man nach und nach herausge-
zogen, und die wenigen Mann, die hier oder da noch nicht
gèholt sind, stehen schon auf der Liste. Viele wurden von
der Heimat oder den verscliiedenen Arbeitszweigen in der
Etappe angefordert, da sie ihres Berufs wegen vorteilh'after
verwandt werden konnten. Auch die vor 1871 Geborenen
wurden heimgeschickt. Für diese alt-gedienten Mannschaf-
ten kam Ersatz Unausgebildeter Landsturm, der sich nur
als garnisondienstfahig erwies, verwundete oder erkrankte
Kameraden von der Front, die nach ihrer Wiederherstel-
lung als nicht mehr felddienstverwendungsfahig befunden
wurden. So sieht der Landsturm heute aus und
schliesslich Einer muss doch seine Arbeit machen
Bei dem Worte Arbeit glaube icli wieder ein leich-
tes Lacheln im Antlitz meines verehrten Heimatgenossen zu
sehen. Denn das scheint nun einmal eine feststehende Mei-
nung im Lande zu sein Der Landsturm in Belgien hat's
gut
Ja gewiss er hat's insofern gut, als sein Leben nicht
in stündlicher Gefahr schwebt aber, bester Ilerr, schie-
ben Sie mal einen um den anderen oder gar zeitweise Tag
für Tag Wache, entbehren Sie mal die geregelte Nachtruhe
nun schon 20 Monate lang, lassen Sie einmal Frost und
Hitze, Sturm und Regen so lange Zeit über sich ergehen,
da sollen Sie einmal sehen, wie Ihre sehr geschatzten
Knochen mürbe werden, besonders wenn es alte oder nicht
ganz kapitelfeste Landsturmknochen sind. Und meinen
Sie etwa, die eintönige, oft so verantwortungsvolle. den
meisten ungewohnte Arbeit auf den Büros oder bei den
anderen militarischen Aufgaben in der Etappe ware nichts
Bedenken Sie doch, dass wir es immer mit einer sich nur
widerwillig fügenden, feindlich gesinnten Bevölkerung zu
tun haben, wieviel Geduld und Takt ist da erforderlich.
Und wenn Sie etwa meinen, dass das Mass der Arbeit nicht
ein vollgerüttelt' und geschütteltes ist, so kennen Sie die
Arbeitszuteilung beim Militar noch herzlich schlecht.
Dass Sie etwa diese Arbeit für unnötig halten, brauche
ich wohl nicht zu fürchten, denn dass unsere kampfenden
Armeen unmittelbar hinter ihrem Rücken besonders gut
gesichert sein und dass wir uns für sie die Hilfsquellen des
reichen Landes nutzbar machen müssen, ist doch etwas
ganz Selbst verstandliches. Von selbst aber fliessen die
Quellen nicht.
Und, mein sehr verehrter Herr, alle diese entsagungs-
reiche stille Arbeit wird mit deutscher Gewissenhaftigkeit
geleistet, ohne dass damit Aussieht auf Beförderung [die
Abgange der Landsturmbataillone werden durch Nach-
schub in gleichen militarischen Graden aus der Heimat
ersetzt] oder Auszeichnung, ja, wie man oft und an Ihnen
leider wieder sieht, Anerkennung in der Heimat verbun-
den ist.
„Nein, nein, so ist's nicht gemeint", wird nun ungefahr
mein Gegenüber murmeln und sich auf gut französisch
empfehlen wollen.
Aber wirfassen ihn noch rechtzeitig am Rockknopf
Mein Freund, jetzt heisst's hiergeblieben, ich bin auch
gleich zu Ende. Ich kenne Sie, Sie werden nun bei sich
denken Ja schön, Dienst ist Dienst, aber nach dem Dienst,
da seid Ihr doch fein raus
Und ich sage Ihnen Sie scheinen zu vergessen, dass
wir auch nach dem Dienst Soldaten sindpnit unseren vierzig
und mehr Jahren, richtige Kommisssoldaten, die nichts zu
melden haben, deren Hauptwörter Jawohl und Zu
Befehl sind, die die Hande an die Hosennaht legen und im
übrigen 'sMaul halten, die dort ihr Glas Bier trinken,
wo's erlaubt und zu Bette gehen, wanns befohlen ist. Wir
sind nun alt genug geworden, um zu wissen, dass diese
strenge Ordnung heilsam und notwendig ist, aber Sie wer
den verstehen, dass wir, die wir nun schon lange Jahre
gewohnt waren,unser Tun undTreiben selbst zu bestimmen,
und gar anderen zu befehlen hatten, diesen Zwang des Sol-
datenlebens mit all seiner Bevormundung doppelt schwer
empflnden. Und das geht nun so schon fast zwei Jahre.
Ich bin noch nicht fertig, mein Herr, ich will Ihnen noch
so ein paar Packchen, die des Landsturmmanns Herz hart
beschweren unter Ihre ehrenfeste Nase lialten, und es ge-
Belg. Kurier