Der Feldpfarrer. lm Laufe der Jahrhunderte aber hat dieser machtige Nachbar immer wieder versucht, sich des blühenden flande- rischen Gartens, dersobequem vor seiner Tür lag, zu bemach tigen. Es gelang ihm immer nur vorübergehend. Umso starker aber war, besonders in den letzen Jahrhunderten, sein Bestreben, dem neuentstandenen belgischen Staate eine französische Seele einzuhauchen und die germanische Sprache und Kultur der Flamen, die diesem Bestreben in dem Wege stand, mit Stumpf und Stiel auszurotten. Im schweren Kampte, der sich oft genug gegen die eigene, mit den Fran- zosenfreunden liebaugelnde Regierung, auch gegen die Alberts, richten musste, haben die Fiamen ihre Gleichberech- tigung mit den Wallonen behauptet. Ob ihnen das auf die Dauer, trotz ihrer iiberlegenen Volkszahl, möglich gewesen ware?—Die alljahrliche Feierdes „Güldenen-Sporen-Tages" aberwurde allmahlich zum Nationalfest aller gut flamisch Gesinnten, die sich an diesem Tage in bewusstem Gegensatz zu den Wallonen und Franzozenfreunden im Lande zusam- menscharten. Dann zog man mit Musik durch die flaggen- bunten Strassen, Reden wurden gehalten, Lieder zu Flam- lands Ruhme gesungen, und von Brügge her halten die tieten Klange der grossen Siegesglocke über das feiernde Flandern. In diesem Jahr mussten natürlich Veranstaltungen unterbleiben. Aber nach einem Bericht des Düsseldorfer General Anzeigers haben es sich die Brüssler Flamen nicht nehmen lassen,wenigstens im engeren Kreise ihren nationalen Gedenktagzu feiern. Im flamischen Haus am grossen Markt tanden sich Hunderte von Mannern und Frauen zu diesem Zwecke zusammen. Ein junger Journalist hielt eine mit gros- sem Beifall aufgenommene, bemerkenswerte Ansprache, in der er auch die jetzigen Kriegsverhaltnisse streifte und darauf hinwies, dass über alle Schicksalsschlage hinweg die Erhal- tung des mehr als 4 Millionen Menschen umfassenden niederlandischen Volkstums in Belgiennach wie vor imAuge behalten werden müsse als Ziel der flamischen Bewegung,die sich gegen die Verwelschung und das propagan distische Franzosentum richte. Von diesem Gesichts- punkte aus erklarte er es tür falsch, wenn man die jetzigen Kriegsgegner des belgischen Staates von vornherein und tür die Zukunst auch als Feinde des flamischen Volkstums ansehen würde. Dann wurden Volkslieder gesungen. Es war dem Be- richterstatter, als ob traute deutsche Heimatklange ertönten. Dieselbe Schlichtheit, Gemütswarme und Herzinnigkeit klingt aus diesen Volksliedern, wie aus den unseren. Germanisch- deutsches Gemeingut, dem niederlandischen Volke hierzu- lande ebenso eigen, wie irgend einem deutschen Stamme Fremd aber und unverstandlich tür den romanischen, tür den französischen Geist! Es ist wahrlich ein tragisches Geschick, welches dieses Volk in den Kampt gegen uns wartN. Wer kam, als den Leuten in den Schützengraben vorne die Zeit arg langlich wurde, so urn die Dammerung herum zu ihnen Wem wurde dort mit unterdrücktem Jubel die grosse Pfarrerhand ein dutzendmal und mehr gedrückt, so dass sie ihm trotz ihrer massiven Konstruktion wehgetan haben muss? Wer holte dort aus unergründlichen Zauber- taschen Zigarren, Zigaretten, Kautabak Wer hatte in der anderen Tasche ganze Schokoladepakete Wer kramte, als er langst alle Taschen ausgekramt hatte, eine nie versiegende Menge von Heiterkeit, Scherzen und niedlichen Histörchen aus Keine überkultivierten, selbstverstandlich, tür diese schlichten Feldsoldaten. Und noch weniger solche mit zwei- felhaftem Einschlag.Sondern erdgewachsene Fröhlichkeit, die jeden lachen oder mindestens doch lacheln machte. Jeden der in den Schützengraben oft tagelang Eingejceilten, die ein Lacheln und eine kernige Aufheiterung so bitter nötig hatten, wie das tagliche Brot. Wer, trage ich, hat mit lustiger Schwerhörigkeit gegen das vorgesetzliche Verbot die Schüt zengraben aufgesucht und immer wieder aufgesucht Das war mein bayerischer Landpfarrer. Natürlich fassten die dankbaren Soldaten auch wieder Mut zu Scherzen, die schon eingerostet schienen. Hochwürden,sagte einer, Sie kommen zu spat, den Abendsegen haben sie uns schon von drüben herüberge- schickt. Er meinte den gewohnten französischen Grana- tenhagel knapp vor Dunkelwerden. Aber er hatte kaum ausgesprochen, da kamen noch ein paar Spatlinge durch die Dunkelheit gepfiffen, freilich ohne zu platzen. Natürlich dachten die Soldaten, dass jetzt der Pfarrer erschrecken würde. Aber der erschrak kein bisschen wie stieg er da noch extra in der Soldatenach- tung sondern sagte plötzlich Saxendi, jetzt hatt' ich beinahe was vergessen." Und dann mussten sie in den Schützengraben nochmal besonders über das hochwürdige Saxendi lachen, dessen volkstümliche Umformung der Pfarrer gelegentlich nicht verschmahte. Und was machten sie für Augen, als der Pfarrer aus einer Extrauntertasche eine richtige oberbayerische Mund- harmonika schalte, eine kleine, die in der Dunkelheit be scheiden, aber verheissend glanzte. So, spiei'n müsst ihr's selber," sagte der Geber, aber leis, hat der Herr Leutnant g'sagt, sonst darf ich nimmer kommen. Eine Menge Hande griffen nach dem heimatlichen Musik- instrument. Einen ganzen Sack voll friedlicher Heimatserin- nerungen warf ihnen der Anblick dieses Instrumentleins in den Schützengraben auf der fremden Erde. An den Tanzbo- den auf dem Dorfe mochten sie denken, an die Kirchweih, an die Hüterbubenjahre, an den Schatz. Und nun wollte sie halt ein jeder spielen. Halt, wer's am besten kann, sagte der Pfarrer. Da zogen sie alle wieder die Hande zurück. Bis dann einer sagte Der Donisl kann's am besten, Hochwürden. Ja, ja, der Donisl, hiess es langs des Schützen- grabens. Da bekam denn der Donisl die Mundharmonika, schleckte ein paarmal stolz über die Lippen, setzte an und spielte leise, leise eine heimatliche Weise, eine frohe. Dann noch eine, und dann wieder eine. Aber diese dritte hatte lange Töne. Es muss was vom Abschiednehmen und Nicht- wiederkommen gewesen sein, und der Donisl brachte die stille Wehmut in den einfachsten Tönen meisterhaft aus dem armseligen Stückchen Holz heraus. So leise waren die Töne, dass man sie ganz gewiss nicht in dem etwa einen Kilometer entfernten Schützen graben hören konnte, wo sich der Feind verbissen hatte. Und wenn er's auch gehort hatte, was hatte dran gelegen Hatte man ihm die eigene unverdrossene Zuversicht besser zeigen können als mit dieser braven Mundharmonika Es War eine wunderschöne, nur ein wenig kalte Nacht. Der flimmel flimmerte. Der allerletzte Schuss war langst ge tallen. UnbewegHch lugten die Wachposten mit den Augen gegen Westen, wahrend ihre Ohren die heimatlichen klagen- den Töne tranken. Stille sassen die anderen neben dem Pfar rer in den Graben mit angezogenen Knien und darüber- gefalteten Handen. Kein Gesicht hat man beim Dammer unter- scheiden können, auch das des Pfarrers nicht. Alle die Ge stalten schienen mit der bescheidenen Musik in eine Einheit zusammenzufliessen. Und wenn man die Augen einen Augen- blick lang schloss und wieder öffnete, lag diese Einheit drohend und beruhigt da: ein Stück Vaterland in Feindesland. Fritz Müller. Sonntagst'eier

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Landsturm | 1915 | | pagina 4