giens, das nunmehr also auf ein Alter von 84Jahren zurück- schauen kann. Aber diese Zeit hat nicht genügt, den Volks- körper zu einer festen Einheit zusammenzuschweissen, seine Angehörigen mit einem wahren nationalen Geist zu durch- tranken. Starke, schier unüberbrückbare Gegensatze scheiden die Geister. Völkisch-sprachlich stehen sich Vlamen und Wallonen, religiös-politisch Katholiken und Liberale, sozial Reiche und Arme in hartem Kampte gegenüber, und dieser Kampt ist jetzt unter den gemeinsamen Leiden des Krieges nicht etwa verstummt,im Gegenteil, der völkische Gegensatz ist neu erwacht und der soziale ist dadurch verscharft wor den, dass soviele Reiche in der Not ihr Volk im Stich liessen, indem sie zunachst einmal ihre werte Person in Sicherheit brachten; auch jetzt sind sie zu einem grossen Teil noch nicht zurückgekehrt. Wenn also in Wirklichkeit der bel- gischen Volksseele ein echtes Nationalbewusstsein stets fehlte, so suchte man doch jetzt nach Aussen hin darüber hinwegzutüuschen und den Deutschen durch die Auslagen der Fenster und das Tragen von allerlei Farben und Abzei- chen ein strammes Nationalgefühl vorzugaukeln. Langsam begann's, als mrn sich von den ersten Schrek- ken der Besetzung des Landes erholt hatte,und nahm allmah- lich einen geradezu herausfordernden Charakter an. Man begnügte sich namlich nicht mit den Landesfarben, sondern bevorzugte allerlei Zusammenstellungen derselben mit denen der uns feindlichen Staaten. England und Frankreich standen besonders hoch im Kurs, weniger beliebt waren die Russen, Japaner und Serben. Bilder und Postkarten feierten sie als die Schützer und Retter des kleinen Belgiens. Man kam auf die wunderbarsten Sachen,selbst bis in den Magen hinein konnte man seine Verehrung für die lieben Verbündeten ausdehnen, wenn man namlich Bonbons mit den betreffenden Farben lutschte. Eine Zeitlang sah die deutsche Verwaltung dem al len gelassen zu, als es ihr aber allzu „bunt" vor den Augen wurde, machte ein Federstrich auf den Kommandanturen des Etappengebietes diesem schonen Sport ein schnelles Ende. Das Tragen von Abzeichen der uns feindlichen Staaten wurde verboten. Was nun Da entdeckte man plötzlich eine tiefe Zunei- gung zu dem Herrscherhause in seinem Herzen, der man unbedingt Ausdruck verleihen musste. Zwar hatte man sich vor dem Kriege nicht sonderlich urn den König und seine Familie bekümmert, hatte sich höchtens in ernster denkenden Kreisen darüber gefreut, dass er im Gegensatz zu seinem Vorganger und Onkel ein ehrbares, glückliches Familien- leben führte, aber nun brannte die Liebe in hellen Flammen und feierte wahre Orgiën. Denkmünzen, Broschen, Nadeln, Medaillen, Gürtelschnallen mit des Königs und der Königin Bilde wurden getragen, auf Kalendern, Verpackungen u. s. w. waren sie zu finden. Der Photographien und Postkarten, die die Mitglieder des Königshauses in allen nur erdenkliehen, oft rührenden Lebenslagen darstellten, waren kein Ende. Auch hier glaubten die bösen Deutschen mit einem Verbot des Tragens und Verkaufs solcher Dinge Oei auf die hochge- henden Wogen vaterlandischer Begeisterung giessen zu müs- sen. Dass aber die Neugeborenen auf den Namen Albert oder Elisabeth getauft wurden, konnte Niemand ver bieten, und von diesem Recht macht man noch heute ausgie- bigen Gebrauch. Blieben nur noch die belgischen Farben. Mit bewunde- rungswerter Unverdrossenheit und erfinderischem Geiste, wie sie eben nur aus einem von wahrer Vaterlandsliebe erfüllten Herzen geboren werden können, warf man sich auf den Ausbau dieses engumgrenzten Gebietes. Und man darf sagen, hier wurde wirklich Grosses geleistet. Du konntest Dich vom Kopf bis zum Fuss in Patriotismus hullen. Da waren Strümpfe, Hosentrager, Schlipse, Blusen, Schürzen, Hüte, Schirme, Taschentücher, Gürtel, Bander, Schleifen in oder mit belgischen Farben. Es gab Bleistifte, Tabaksbeutel, Pfeifentroddeln, Lineale, Balie, Kugeln, Bindfaden, Brief- taschen u. s. w. mit ihnen. Wenn Du keine Kokarde ins Knopfloch stecken wolltest, so konntest Du seidene Stief- mütterchen mit den drei Farben oder einen kleinen Strauss mit einer schwarzen, gelben und roten Blume nehmen. Daneben wurden natürlich mannigfache Denkmünzen mit mehr oder weniger für die Deutschen anzüglichen Inschriften geschlagen, auch die belgischen Geldstücke mit derjahres- zahl 1914 zu allerlei Schmuckstücken verwendet. In' den Schaufenstern benutzte man reichlich Seidenpapier in den Landesfarben, und Waren z. B. Garne, Colonialwaren, Tücher, Stoffe u. s. w. wurden zu einem farbigen Dreiklang zusammengelegt. Aber an dem ewigen Schwarz Gelb Rot sail man sich schliesslich satt. Da war doch noch Amerika, dessen Farben man ja tragen konnte, weil es nicht zu den Feinden Deutschlands gehort, wenigstens nicht zu den offenen. Auch war man ihm Dank schuldig für die reiche, selbstiose Hilfe an Mehl und anderen Nahrungsmitteln, mit denen es Belgien versorgt,wenn es dabei auch sicherauf seine Kosten kommen wird. Und schon prangte das Sternenbanner an allen mög- lichen und unmöglichen Gegenstanden in den Schaufenstern, für 0,25 Ctms konnte man in jedem Papier-und Barbierge- schaft das Bild des Prasidenten Wilson, des Wohltaters von Belgien kaufen und wunderschöne Ansichtspost- karten, auf denen die amerikanische Hilfe symbolisch darge- stellt war, wurden feilgeboten. Nun ist die ganze bunte Pracht verschwunden, das Spiel mit den Farben und Abzeichen ist ausgespielt, und das kam so. Man hatte sich zur Feier des Nationalfesttages in einigen Orten z.B. in Gent und Aalst den Luxus einer kleinen Kundgebung gegen die Deutschen gestattet. Nichts Ernsthaf- tes, bewahre Nur ein bisschen Zusamnienrottung und Ge- johle, dem die einschreitenden Landsturmleute, ohne von den Waffen Gebrauch machen zu müssen, schon durch ihr Er- scheinen ein Ende bereiteten. Aber auch das kann sich die deutsche Verwaltung selbstverstandlich nicht getallen lassen, und so verbot sie denn als Antwort auf diese Ausschreitun- gen kurzerhand das Tragen und Feilbieten jeglicher Farben und Abzeichen, die eine vaterlandische Gesinnung bekunden sollen. Auch das Singen von nationalen Liedern und das Tragen belgischer Orden und Ordensbander und grüner Blatter wurde untersagt. Denn abgesehen davon, dass man schon immer künstliche Blatter trug, die auf der Schauseite harmlos aussahen, aber auf der anderen Seite Bilder und Inschriften zeigten, hatte man zum Nationalfesttage (21. Juli) das Efeublatt als nationales Abzeichen_erkoren, und nut seltén sah man jemand an dïesem Tage ohne das Blatt. Abei^ eben so selten wusste man auch, dass das Zeichen, das man so stolz herausfordernd an der Brust trug, die Anhanglich- keit, das zahe Festhalten an König und Vaterland bedeuten sollte. In Brüssel sollen sich übrigens auch die Landsturm leute mit diesem Blatt geschmückt haben. Wenigstens erzahlt ein Berichterstatterdes Düsseldorfer General Anzeiger dass er zu seinem nicht geringen Erstaunen einen Berliner Landstürmer harmlos. mit diesem symbolischen Efeu im Knopfloch der feldgrauen Uniform spazieren gehen sah. Mensch sagte er zu de:n Biederen, Sie tragen ja bel gischen Efeu Jawoll," erwiderte der, und det bedeutet uff hochdeutsch Wo ick sitze, da sitz ick. Verstehnse N.

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Landsturm | 1915 | | pagina 3